kleioscope

Eveline Cantieni

Die Arbeiten von Eveline Cantieni kreisen um Geschichte, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie holen den Betrachter im Alltag ab, in der Gegenwart und dort, wo er oder sie sich sicher fühlen. Doch diese Gewissheiten sind oft trügerisch. Mit geschärftem Blick ortet und demontiert sie Ungereimtheiten, die sich unter der Oberfläche von Sehgewohnheiten und Denkmustern verbergen. Mit ihren Themen und ganz unterschiedlichen Arbeitsmaterialien verstrickt die Künstlerin den Betrachter in seine eigenen Widersprüche. Dies sehr oft mit subtilem Humor. Geschichte ist ein wichtiger Fundus für das Schaffen der Künstlerin. Themen, Medien und Handwerk faszinieren sie. Cantieni schöpft oft aus der Familiengeschichte, die sich innerhalb und ausserhalt der Schweizer Grenzen abgespielt hat. Eine Arbeit mit bekannten Schwarzweiss-Fotografien des russischen Einmarsches in Prag verdeutlicht ihr Anliegen: Die Abbildung ist stark vergrössert link Bild und verpixelt auf Vlies projiziert. Je nach Position, die man davor einnimmt, sieht und interpretiert man die Szene anders. Geschichte, so die Folgerung aus dem Bild, ist keine Kette von Fakten, die lediglich nach logischen Gesichtspunkten linear zusammengefügt werden muss, Geschichte ist ein Bild, das in den Augen und Köpfen entsteht. Geschichte wird je nach Nähe oder Distanz zum Geschehen immer neu ausgehandelt. Die Bilder dazu müssen neu formuliert werden. Geschichte, so der Denkanstoss, muss stets von neuem ins Blickfeld gerückt werden. Dies geht nur, wenn sich der Betrachter und die Betrachterin selber ihrer Position bewusst werden und bereit sind, ihre Perspektiven zu verändern. Klischees und Floskeln sind historisch gewachsene, vermeintliche Gewissheiten. Cantieni nimmt sie besonders gern aufs Korn. Die Gesellschaft braucht Klischees einerseits, um sich verständigen zu können. Denn was aus einem Mann wird, der den Tisch plötzlich Teppich nennt und den Stuhl Wecker, hat Peter Bichsel literarisch brillant vorgeführt. Er wird irre an der Welt und verstummt. Anderseits behindern festgefahrene Denkmuster die Wahrnehmung. Cantieni spielt mit viel Humor mit Begriffen, die gesellschaftliche Konventionen beinhalten. „Alles läuft rund“ link Bild steht auf einer grossen Arbeit aus unzähligen Wundpflastern. Diese sind zu einer überdimensionierten Formation zusammengeklebt worden, die je nach Blickwinkel wie eine überdimensionierte Häkeldecke aussieht. Solche Arbeiten regen dazu an, hinter oberflächlich heil erscheinende Fassaden zu schauen. Hier wird man sich der Widersprüche bewusst, in die man sich mittels Floskeln oft begibt. Mit ihren Arbeiten stellt die Künstlerin dem Publikum manchmal richtiggehend ein Bein. Aber ist es nicht so, dass man erst des Weges gewahr wird, wenn man stolpert? Diese kleinen Fehler und Stolpersteine sind raffinierte Strategien. Sie öffnen Risse in unsere heile Welt und ermöglichen die Entwicklung neuer Perspektiven. Kunst lebt nicht nur von Ideen, sondern auch von handwerklicher Arbeit. So forscht Eveline Cantieni nach textilem Handwerk der Vergangenheit. Nach Frivolités beispielsweise, also nach filigranen Knüpftechniken mit Schiffchen, deren Herstellung heute fast nur noch dank Kanälen wie Youtoube erhalten ist. link Bild Oder nach Häkel-, Stick- und Stricktechniken. Kleine Handarbeiten bergen viel vergangenes Wissen. In ihnen ist die Zeit zu einem Werk geronnen, die Zeit, die zu ihrer Herstellung einst benötigt wurde. Cantieni nimmt diese oft achtlos in Brockenhäusern abgelegten Zeitkapseln und verwebt sie wieder mit dem Strom der Zeit. Klöppeldeckchen werden mit fluoreszierender Farbe umgesetzt, auf den Boden gelegt oder an eine Wand gehängt. Nachts verwandeln sich diese Objekte zu geheimnisvoll leuchtenden Zeichensystemen. Weil sie Zeit brauchen, um sich tagsüber wieder mit Tageslicht „aufzuladen“, wird die Vergangenheit ihrer textilen Vorlagen, die durch zeitaufwändige Herstellung gekennzeichnet ist, wieder gegenwärtig. Ganz gegenwärtig bis zukunftsweisend sind die Medien, in denen die Künstlerin arbeitet. Sie verwedet oft Wegwerfmaterialien wie Plastik oder Wundverbände. In ihrem Atelier in Winterthur steht auf dem Arbeitstisch prominent ein Computer mit grossem Bildschirm, an den ein Beamer angeschlossen ist. Hier verknüpft sie ihre historischen Recherchen mit Tonspuren und mit Mitteln des Films zu ganz neuen Arbeiten. Ton, Animation und Medium schaffen eigenständige Assoziationsflächen. Das strickende Mädchen, eine Arbeit aus dem Jahr 2007, versinnbildlicht die mediale Vielschichtigkeit. Ikonografisch hat die Multimediaarbeit grosse Vorbilder: Albert Ankers berühmtes Gemälde aus dem Jahr 1883/84 ist wohl das bekannteste Beispiel, doch haben auch Giovanni Segantini oder Auguste Renoir das Motiv aufgegriffen. Cantieni geht vom Bild ihrer Tochter aus und reichert es mit einer Tonspur an, umgesetzt aus Harry Potter. Zudem reduziert sie die Abbildung zu wenigen zeichnerisch locker geführten Strichen. Dann wird die Strickende als Animation an die Wand projiziert. Ein bisschen muss man auch schmunzeln, denn anders als Ankers fleissiges Kind kommt Cantienis Mädchen mit ihrer Strickarbeit auf keinen grünen Zweig. Sisyphos kriegt eine kleine Schwester. Die nimmt aber nicht alles so schwer wie der mythische Grieche seinen Stein. Cantieni gelingt mit dieser virtuosen Kombination von Ausdrucksmitteln eine schwerelose aber umso nachhaltigere Reflexion über die Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das ist die Erkenntnis aus einer Betrachtung der Werke: Wir kommen nur weiter, wenn wir wissen, woher wir kommen.

Text: ARScribendi – Christina Peege, 2015

www.evelinecantieni.ch

eveline.cantieni@gmail.com

Büelrainstrasse 14a,
8400 Winterthur

link website