kleioscope

Goethes Faust I

Goethes Faust I
eine Abschrift
2012
diverse Materialien auf Baumwolle
210 x 330 cm

Faust I
Es ist schon eine Herausforderung besonderer Art, sich über Goethes Faust I zu äussern. Ist es doch neben Hamlet das meist ausgeführte Werk der Welt. Alles was mir in der Schnelle über dieses Werk einfällt, sind Ueberbleibsel von Gelesenem, Gehörtem, Gesehenem. Zitate aus dem Werk werden so häufig gebraucht und sind im allgemeinen Wissen so sehr verankert, dass dabei ihr Urheber oft vergessen geht.

Dass Goethes Werk auch im neuen Jahrtausend kaum an Wichtigkeit eingebüsst hat, wurde überdeutlich anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle München im Jahr 2018. "Du bist Faust" lautete der programmatische Titel der Ausstellung. Die Botschaft ist überdeutlich. Im postmodernen Subjekt lebt das faustische Streben nach Fortschritt und Wissen weiter. Der Mensch ist auch heute nicht zu zähmen und ihm sind alle Mittel recht, um an sein Ziel zu kommen.

Faust in den Griff zu bekommen, sei es auch nur ein Zipflein davon, schien mir unmöglich. Zu gigantisch ist seine Aussagekraft, zu weit der Weltkosmos in dem sich die Tragödie abspielt.
Und doch: Mit Faust I wagte ich mich an den bislang längsten und gewichtigsten Text, der meine Sicht aufs Schreiben, Sehen und Lesen grundlegend veränderte.

Auf gut Glück bestimmte ich die Grösse, 212 x 330 cm und begann abzuschreiben. Ohne Entwurf liess ich mich vom Text treiben.
Das langsame, memorierende, das über Wochen und Monate andauernde Abschreiben erinnerte mich an die mittelalterlichen Schreibwekstätten, wo Nonnen und Mönche, gebäugt über grosse Folianten, religiöse Texte kopierten oder neu schrieben, wo durch aufwendige Arbeitsprozesse Bücher entstanden. Ruhe, Langsamkeit und Achtsamkeit prägten allmählich mein unmittelbares Umfeld und liesen die Turbulenzen des Textes in neuem Licht erscheinen. Jedes Wort und jedes Satzzeichen wurde zum Indiviuum, das Raum und Zeit beanspruchte. Das Sorgfältige Abschreiben liess mich unmittelbar erfahren, wie sich die visuellen und verbalen Qualitäten der Schrift zeigen. Das Zusammenspiel von Inhalt und Form eines Wortes machte deutlich, wie Bild und Schrift ein Zweckbündnis miteinander eingehen. Dabei zeigte sich, dass dieses Mitmeinander selten ausgewogen und neutral ist. Beide, das Visuelle und das Verbale, kennen Mittel und Wege zu ihren Gunsten.
Die auffälligste Umformung betrifft den Bildträger. Das 212 x 330 cm grosse Baumwollgewebe tritt anstelle der Buchseiten. Das je nach Ausgabe über 100seitige Werk breitet sich jetzt auf einer einzigen Fläche aus. Die leicht lesbare lineare Struktur des Textes ist aufgehoben, das Umblättern der Seiten fällt aus. Ohne diese Strukruren erhält der Schreibgestus variantenreiche Möglichkeiten. Ein einzelnes Wort kann ganz ausserhalb des Textes stehen, wo es als reine Form wahrgenommen werden kann. Oder dann steht es in unspätakulärer Form ganz im Dienste der Sprache. Im freien, visuell betonten Schreibgestus wird der Schreibstift zum Zeichenstift.
Aber auch die verbal Seite der Schrift weiss seine Eigenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Ein Text will gelesen werden. Wer seinen Inhalt erfassen will, muss sich ihm länger, intensiver widmen. Ein Buch kann mehrer Stunden Aufmerksamkeit fordern, bis wir seinen Inhalt erfasst haben. Bei einem Bild hat man schneller das Gefühl, man wisse worum es geht. Ein paar Sekunden und schon erkennt man den Baum, die hinkende Frau, die Meerlandschaft oder wie hier eine riesige Fläche Schrift.
Bedeutend bei diesen unterschiedlichen Präsentationsformen ist, dass wir erleben können, wo der Unterschied zwischen sehen und lesen liegt. Wenn ich lese, kann ich nicht gleichzeitig sehen. Natürlich ist lesen auch ein Sehvorgang, aber kein bewusst ästhetisches wahrnehmen.
Weiter unterscheiden sich Text und Bild in diesem Fall auch deutlich in der räumlichen Wahrnehmung. Der Text verlangt, dass ich nah an ihn herantrete. Das Bild als Ganzes braucht eine räumliche Distanz.
Im bewussten Vor- und Zurücktreten kann ich den Uebergang vom Sehen zum Lesen unmittelbar erfahren.